Lange galten die Pastoralbriefe als Beleg dafur, wie sich die paulinische Tradition nach dem Tod des Paulus verflacht und in den Bedingungen der Welt eingerichtet habe. Die Forschung ging davon aus, dass die drei Schreiben aus der Feder eines einzigen Paulusschulers stammten, der Paulus aus dem Grabe rufen und in die eigene Zeit hinein sprechen lassen wollte. Dieser Kommentar zeigt: Beides stimmt nicht. Liest man die Pastoralbriefe als drei unabhangige Schreiben verschiedener Autoren, dann stellt man fest: Jeder einzelne Brief bringt das Erbe des Paulus so zum Sprechen, dass es Gehor findet. Zielt der Titusbrief nach Kreta in eine Debatte mit judischen Gegnern, geriert sich der 2. Timotheusbrief als Dokument eines innerpaulinischen Schuldiskurses im kleinasiatischen Raum. Das Jungste der drei Schreiben ist der 1. Timotheusbrief; er kennt die beiden anderen Texte und spitzt ihre Inhalte fur seinen antignostischen Kampf zu.Alle drei Schreiben fuhlen sich der Paulustradition verpflichtet - und zeigen zugleich: Wer diesem Erbe treu bleiben will, muss es verandern.